Der Fall „Onne“- ausgedeutet von Ex-Stasi-Major
Roth
Neben den zahlreichen Ex-Staatssicherheitsbeamten,
deren überwiegende Mehrheit seit Untergang ihres Ministeriums keine
Auskunft zu ihren damaligen Berufspraktiken gibt, haben sich einige wenige
der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Einer von ihnen ist
der ehemalige Stasi-Offizier Bernd Roth, der nicht nur Fragen von Journalisten
beantwortet, sondern darüber hinaus auf entsprechende Anfragen hin
die Protokolle, die seine „Firma“ seinerzeit in so zahlreichen Mengen angefertigt
hat, mit seinen internen Kenntnissen deuten und erklären kann. Ob
den einstmaligen Tschekisten dabei
allein seine alte Berufsleidenschaft, Sach-
verhalte aufzuklären antreibt
oder auch die Aufmerksamkeit, die inm bei seiner neuen Aufklärungstätigkeit
zuteil wird, spielt bei der Bewertung dessen, was er über die Interna
des MfS verrät keine wesentliche Rolle. Nichtsdestotrotz sind
die Aussagen des Ex-Majors Roth
nur deshalb, weil sie die eines MfS-Insiders sind
nicht schon allein deswegen die
ganze Wahrheit. Jedoch helfen sie allemal dabei, die intern festgelegten
Vorgehensregeln dieses Ministeriums kennenzulernen und aus ihnen heraus
bestimmte Ereignisse annäherungsweise besser zu verstehen.
Nichts weiter als eine solche Annäherung
ist der folgende Text, der sich auf
Roths Auswertungen der IM-Akte "Onne"
bezieht. Auf Anfrage von „Onnes“ Bruder Thomas hatte sich Bernd Roth zu
einer klärenden Durchsicht der IM-Unterlagen Jürgen Onißeits
bereitgefunden und während eines Besuches von Thomas ver-
sucht, Licht ins Dunkel der ziemlich
bizarren und insgesamt unklaren Sachlage über Art, Status und Ausmaß
der Mitarbeit Jürgen Onisseits zu bringen.
Anhand von Roths Erklärungen
zu den von ihm eingesehenen Unterlagen des Vorgangs „Onne“ wird deutlich,
daß die Sache mit IM Onne offenbar so einfach nicht ist, wie sie
sich Anne Hahn und Frank Willmann gemacht haben. Dabei ist der Punkt
auch nicht, daß es – wie Grit Ferber in dem Film „Striche ziehen“
erklärt, möglich war, eine Mitarbeiter-Anwerbung des MfS abzuwehren,
sondern welchen Zwängen man unterlag und welche Möglichkeiten
des Ausstiegs einem zur Ver-
fügung standen, sobald man
sich einmal auf eine Kollaboration eingelassen hatte.
Die Frage ist hier nicht als unterschwellig
sich selbst beantwortende, sondern als offene, nach Antworten suchende
gestellt.
Ganz unabhängig von Roths Aktenauswertungen
mußte man sich ja ohnehin schon fragen, wie ein IM der Staatssicherheit,
der als Vertrauensperson der Weimarer Subkultur ein ergiebiger Sammler
erstklassiger Informationen nicht nur sein konnte, sondern angeblich auch
gewesen ist, plötzlich zum Armeedienst herangezogen wird und damit
eineinhalb Jahre für weitere Spitzeltätigkeit in Weimars Subkultur
nicht zur Verfügung stehen konnte. Als Stasi-Informant der Weimarer
Subkultur mußte er durch seinen Vertrauensstatus in diesem Milieu
und die Nähe an vielen für das MfS wichtigen „staatsfeindlichen“
Ereignissen doch deutlich wertvoller sein als für einen möglicherweise
angedachten IM-Einsatz unter den Soldaten, für die man hätte
auch einfach andere, in zivilen Bereichen nicht so wertvolle IMs einsetzen
und sich damit die „Quelle Onne“ für die Weimarer Subkultur
erhalten können.
Außerdem hatte das für
Einberufungen zuständige Wehrkreiskommando, das eng mit dem MfS kooperierte,
gewußt, daß Onne den Wehrdienst verweigern wollte und damit
zwei Jahre ins Gefängnis gehen würde. Auch für seinen Einsatz
unter Gefängnisbedingungen gilt dasselbe: Onne würde als Informant
draussen viel wertvoller sein und das selbst dann, wenn er nichtmal alles
und nicht das Hochwertigste zu den jeweils zu schildernden Situationen
bekanntgab. Sein Ergiebigkeits-Potenzial war dort höher als im Gefängnis,
wo zum einen die totale Überwachung politische Widerstandsaktionen
sowieso fast verunmöglichte,also
diesbezüglich weniger Aufklärungsbedarf
bestand als in vergleichweise minder kontrollierten Subkulturen "draußen",
und dort auch andere inhaftierte IM`s oder als Zuträger gewonnene
Häftlinge den Spitzel-Job machen konnten, damit Onne wegen seiner
zahlreichen Kontakte und dem nahezu absoluten Vertrauen, das er in der
Weimarer Szene genoß, durch Weitergabe von Details aus dieser Szene
wei-
terhin seinen potenziell grössten
Informanten-Wert erbringen konnte
Zum dritten fragt man sich auch,
wie ein Spitzel, den man gern als erstrangigen IM aufgebaut hätte
und also durch Anreize dazu motivieren musste plötzlich, statt ihn
zu belohnen, hart bestrafte. Auch wenn letztlich jeder bis zum 26.Lebensjahr
mit dem Ableisten des Armeedienstes konfrontiert war: Selbstverständlich
sollte diese Einberufung die Renitenz abstrafen (vielleicht auch umerziehen,
wo es noch nicht zu spät schien), denn neben Onne wurde auch
sein Punk-Kumpel „Kipper“ zur Armee gezogen. Er verweigerte ebenfalls den
Waffendienst. Aber da nun Onne für das MfS nicht bloß abzustrafender,
zu disziplinierender Punk, sondern vor allem auch mit Belohnungen zu motivierender
Informant gewesen ist, fragt sich, warum man diese Anreize durch eine abstrafende
Einberufung zur Armee derart konter-
karierte. Wollte man ihn fortan
„negativ“ motivieren in der Art, daß seine Hono-
rationen in erster Linie in dem
Verzicht auf Strafen bestanden ?
Bereits diese Einberufung stellte
eine Disziplinierungsmaßnahme dar und passt so gar nicht in das Bild
vom durch Vorteile zu motivierenden Spitzel, zumal das MfS wußte,
daß es ihn wegen seiner angekündigten Verweigerung des Waffendienstes
damit zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Wozu dieser Abzug eines für
die Ausspionierung der Weimarer Subkultur wichtigen Informanten. Wozu die
Bestrafung zu 18 Monaten Armeedienst oder wahlweise zwei Jahren Gefängnis
?
Welche Art Belohnung für einen
Spitzel ist das ? Wahrscheinlich hat sich Onne selbst darüber gewundert,
wo er doch sicher annahm, seine Einlassung mit dem MfS würde ihn auf
längere Zeit von der Einberufung zur Armee verschonen oder ihn durch
Schaffung einer Wehrdienst-Untauglichkeits-Legende vielleicht sogar gänzlich
vom Armeedienst befreien.
Das fragt sich auch Herr Roth und
weist auf die Ungewöhnlichkeit dieser Maß-
nahme hin.
Vermutlich aber war Onne längst
massiv unter Druck geraten. Das MfS wollte ihn als richtigen IM qualifizieren,
dazu benötigten sie aber seine ernsthafte Mitarbeit und sein JA zu
einer solchen Laufbahn. Statt dessen verweigerte er die Bereit-
schaft, sich als IM binden zu lassen.
Für einen „Hunni“ ab und an ein bischen selbstkontrollierbarer „Singsang“
aus der Punkszene, warum nicht, hatte er sich zu Beginn wahrscheinlich
gesagt, aber richtiger IM? In den von Roth durchgesehen Protokollen zeigt
sich die Unwilligkeit Onnes gegenüber den ernsthaften IM-
Absichten seiner „Führungsoffiziere“
Reinicke und Schubert.
Zwar war Onne bei seinen Unterredungen
mit dem MfS mitunter durchaus nicht unergiebig, aber für eine Qualifikation
nach MfS-Vorstellungen reichte dies nicht.
Onne hatte zu Beginn seiner Einlassung
mit dem MfS geglaubt oder sich eingere-
det, er könnte die Kontrolle
über Maß und Qualität dessen behalten, was er dem MfS an
Infos lieferte. Aber da er, weil die Stasi noch andere Informanten in der
Subkultur hatte, oft nicht der einzige war, der eine bestimmte Situation
für das MfS im Kopf mitschnitt verlor und die Stasi ihn das wissen
ließ verlor er schnell die Sicherheit über die von ihm beabsichtigte
Steuerung dessen, was er dem MfS liefern wollte. Man ließ ihn natürlich
absichtlich in Unkenntnis darüber, wann er der einzige MfS-Mithörer
einer Situation war und wann nicht, aber trug zu seiner Verunsicherung
bei, indem man ab und zu eigene Detail-Kenntnisse über eine von ihm
geschilderte Situation durchblicken ließ. Genau das war ja auch die
Strategie seiner Auftraggeber vom Ministerium für Verunsicherung gewesen.
Nun mußte er liefern, durfte kein „Blech“ erzählen und stand
damit massiv unter Druck. Da er sich trotzdem weiterhin zu einer IM-Laufbahn
nicht bereitfand erhöhte man den Druck, wozu auch und vielleicht sogar
primär die Einberufung zur Armee gehörte, die damit auch seinem
Punkleben für lange Zeit ein Ende machen sollte.
Als Jürgen Onisseit dann im
Herbst 1982 den Wehrdienst verweigerte und da-
raufhin seine Haftstrafe antrat
hatten MfS-Beamte ihn in der Untersuchungshaft besucht und gefragt, ob
er auch in der Haft mit dem Ministerium zusammenar-
beiten würde. Dies lehnte er
ab. Selbstverständlich spielten, wie die Aussagen in den Protokollen
vermuten lassen, auch Befürchtungen eine Rolle, sich dann erhöhter
Gefahr auszusetzen, wenn er plötzlich unter dem Druck einerseits optimaler
Informationslieferung, andererseits dem möglicher Aufdeckung durch
Mitgefangene mit unabsehbaren gewaltsamen Folgen steht. Sicher hätte
das MfS seine Quelle im Knast gut schützen können, aber dafür
erwartete es ebenso sicher ordentliche Gegenleistungen seiner Spione. Und
damit wäre die Falle dann zuge-
schnappt und ein Zurück nicht
mehr möglich, sodaß Onne diesen heiklen Folgen durch sein "Nein"
einen Riegel vorgeschoben hat.
Diese nachvollziehbare Selbstschutzmaßnahme,
in der Haft nicht in die Zange zweier konträrer Pole zu geraten, (dem
Druck des Mfs einerseits und der möglichen Vergeltung der Häftlinge)
interpretiert Anne Hahn im Film „Striche ziehen“ dann einfach mal dergestalt,
daß Onne hätte nur „seinen Arsch retten wollen“ und meint damit
vor allem: daß er damit hätte sein Leben retten wollen. Gern
hätte man in diesem Zusammenhang Beispiele von aus solchen Gründen
stattgefundenen Mor-
den und schweren Körperverletzungen
im DDR-Gefängnis erfahren. Als Aufarbei-
terin hat Hahn sicherlich Zugang
zu solchen Informationen. Doch mehr als diese
vereinfachende Deutung bekam man
von ihr nicht. Hätte man sie von ihr bekom-
men, würde die Selbstschutzmaßnahme
dadurch natürlich erst recht nachvoll-
ziehbar, ist aber auch sonst völlig
plausibel, wenn man an Onnes auffällige Sorge um Kontrollbehalt denkt,
der ihm durch die unabsehbaren Folgen einer Knast-
Spitzel-Tätigkeit noch mehr
ins Wanken zu geraten schien als es bereits mit sei-
nen speziellen Vorstellungen darüber,
in welcher Weise er dem Mfs über Weimars Subkultur berichten wollte
geschehen war.
Ich frage mich auch, wie Hahn wohl
eine Entscheidung Onnes, dem MfS im Ge-
fängnis Informationen zu liefern
kommentiert hätte? Höchstwahrscheinlich kei-
neswegs als aller möglicher
Gewaltfolgen zum Trotz konsequente und daher insofern respektable Fortführung
einer egoistisch motivierten Verrätertätigkeit, sondern
als die eines abgebrühten vorteilssüchtigen Verräters, der
sich selbst im Gefängnis nicht zu schade ist, seine Mithäftlinge
an ihre Überwacher zu verraten, um begünstigt zu werden.
Man sieht, daß ab einem bestimmten
Zeitpunkt des Einlassens die einzige Möglichkeit, dem zunehemenden
Druck der einen und der moralisch befeuerten „alternativlosen“ Verhaltens-Bewertung
der anderen zu entgehen offenbar nur darin besteht, sich dem MfS wieder
ganz zu entziehen, was vermutlich alles andere als einfach, wenn denn überhaupt
erfolgreich machbar gewesen sein wird. Immerhin akzeptierte die Stasi sein
"Nein" bezüglich seiner Mitarbeit während der Haft, wohl auch
deshalb, weil er da austauschbar und nicht so wertvoll war, wohingegen
sie ihm als Quelle der Weimarer Subkultur offenbar deutlich weniger Entscheidungsfreiheit
gab. Worauf sich die weiter oben schon gestellte Frage wiederholt: Wenn
er im Gefängnis als Spitzel austauschbar war, wozu steckte man ihn
dann dort hinein, statt ihn außerhalb des Gefängnisses als erstklassige
Quelle zu nutzen ?
Der Führungsoffizier und
sein dubioses IM-Projekt.
Während Roths Aktenauslegungen
stellte sich heraus, daß Onnes Führungsoffizier Dietmar Reinicke
ein unzulänglich arbeitender MfS-Beamter gewesen ist, der sich mit
der protokoll-manipulierten IM-Fingierung seines Onne-Kontaktes Aufstieg
und Prämien sichern wollte, die er mangels realer stasi-beruflicher
Qualitätsnachweise nie hätte bekommen. Ein Berufspersönlichkeitsprofil,
das auch durch die Gründe seiner im Februar 1984 erfolgten Entlassung
bestätigt wird, als er sich im Zustand des durch Akoholkonsum entstandenen
Kontrollverlustes auf Privatgespräche mit Staatsfeinden eingelassen
hatte.
Die Protokolle zu Onnes Tätigkeiten
enthalten manche Ungereimtheiten. Aufklärer Roth hat versucht, diese
in Reime aufzulösen und ich gebe davon im Folgenden einiges an den
Leser weiter.
Es gibt keine Quittungen über
erhaltene Zahlungen an "IM" Onne, was nicht heisst, daß es keine
Zahlungen gab, aber belegt, daß der Versuch einer primären Bindung
der Kontaktperson an das MfS entweder nicht stattfand oder -im Sinne einer
Einwilligung zur IM-Tätigkeit -nicht positiv beantwortet wurde. Denn
wie Roth erklärte, war die Unterschrift der Kontaktperson unter eine
Quittung über erhal-
tene Zahlung für das MfS einer
der ersten wichtigen Schritte zur Herstellung einer Bindung der Kontaktperson
an das MfS, genauer gesagt, der Herstellung einer Erpressungssituation,
denn eine vom Informanten signierte Quittung lässt sich je-
derzeit unters Volk bringen, z.B.
im Hausflur der Wohnung des IM mit der Absicht "verlieren", daß Nachbarn
diese finden. Das MfS war in diesen Mitteln ja bekannt-
lich äußerst erfindungsreich.
Roth führt weiter aus, daß, sobald man eine Person als
"Internen Mitarbeiter" verpflichten wollte, ein Aufklärungsplan
erstellt werden mußte, in welchem begründet wurde, warum und
wo man diese Person einsetzen wollte. Ein solcher „Plan der Aufklärung“
fehlt in Jürgen Onißeits Akten ebenso wie die zweite, bei IM-Einstellung
unabdingbare Notwendigkeit eines sogenannten Werbungsvorschlages,
in welchem Voraussetzungen und Zielstellung dezidiert dar-
gelegt werden.
Im Falle eines beabsichtigten sogenannten
„IM-Vorlaufs“, also gewissermaßen einer Testphase der als IM zu gewinnenden
Person wurde von einer separaten Abteilung des MfS, der Abteilung 12,
ein gelber Aktenordner an den Verant-
wortlichen des betreffenden
Vorlauf-IMs gesendet und die darin enthaltenen notwendigen Formalien enthielten
allein bereits hundert Seiten.
Von Onne gab es darin aber nur eine
einzige, die erste Akte und diese allein reichte nicht aus, um IM zu sein.
Am 5.4.84 wird -nach etwa 3 Jahren
angeblicher IM-Tätigkeit- "IM" Onne in den Akten als "IM Vorlauf"
geführt, was nichts weiter heisst als daß es sich bei dem Kontakt
mit Onne um einen Testlauf zur Feststellung seiner IM-Tauglichkeit
han-
delt. Inzwischen war Onnes Stasi-Kontaktperson
Reinicke suspendiert worden und so flog auch auf, daß er die Gespräche
mit Onne im nachhinein als IM-Gespräche protokolliert hatte, ohne
daß diese die entsprechenden Anforderungen erfüllten, beispielsweise
Zahlung nur mit Quittung sowie Treffen ohne sogenannte Legen-
denbildung, sondern immer als offene
IM-Kontakttreffen ohne die Vortäuschung einer Personenbefragung zur
Klärung eines Sachverhaltes. Onne war aber unter solchen Legenden
befragt worden. An anderer Stelle wurde der informationell wertvollere
Teil loser - z.B. in der Kaderleitung seines Bibliotheksarbeitgebers geführte,
ihm vorher nicht angekündigte - Gespräche als IM-Informationen
extrahiert und protokolliert. Als Reinicke suspendiert worden war und der
Fake
aufflog, wurde Onne im April 1984 wieder als "IM-Vorlauf" geführt,
obwohl es beim MfS nicht möglich war und nebenbei auch völlig
unlogisch erscheint, einen bereits echten IM wieder als Vorlauf-IM
zurückzustufen.
Ein weiterer Fakt: Bei Gesprächen
zwischen IMs und ihren Führungsoffizieren durfte Polizei nie anwesend
sein, bei Onnes Gesprächen war sie das sehr häufig.
Des Weiteren fanden die Gespräche
mit Onne immer unter einem ihn -wie jeden anderen DDR-Bürger- zum
Erscheinen verpflichtenden Vorwand statt, sei es z.B.
wie oben erwähnt durch die
"Klärung eines Sachverhalts" durch die Polizei oder Termin beim Wehrkreiskommando
der NVA. Bei einem IM wäre eine solche er-
scheinungsverpflichtende Vorwandsituation
gar nicht nötig gewesen, da es ja sein Job ist, zur Informationsübergabe
zu erscheinen. Auch als Situation, um ihn als IM vor seinen Freunden zu
decken war solch eine Vorladung nicht nötig, denn die Treffen mit
IM`s fanden ja geheim statt.
Weiterhin finden sich Protokolle
ohne Orts- und Zeitabgabe, obwohl diese Angabe für IM-Treffen Pflicht
war. Protokolle wurden, so Roth, wegen der darin enthal-
tenen, bei IM-Informationen meist
aufklärerisch relevanten Neuigkeiten immer einen Tag später vom
IM-Führungsoffizier an seine Vorgesetzten weitergelei-
tet. Bei den Gesprächen mit
Onne geschah dies zumeist erst eine Woche später.
Major Roth spricht zudem auch über
von Reinicke erstellte "Extrakte" aus Unter-
haltungen, mit denen Onnes loses,
sicher für dasMfS nicht unergiebiges Geplapper in den später
erstellten Protokollen zu faktenorientierten Berichten frisiert wurde.
Diese suggerieren dann den Charakter einer zielgerichteten Informa-
tionsweitergabe und das auch dann
noch, wenn -wie meistens- real nur eine lose Unterhaltung über
Stimmungen in der Szene und Einschätzungen von Personen aus dieser
Szene stattgefunden hat. Diese Fingierung macht das um seine Abschöp-
fung wissende Geplapper zwar nicht
"unschuldiger", verweist aber auf das Nichtvorhandensein zielgerichteter
IM-Informationsübermittlungen. Selbst-
verständlich war die „Plappernlassen“-Methode
sicher auch ein probates Mittel,
Informationen zu erhalten, allerdings
blieben die extrahierten Informationen bei Onne vergleichsweise mit denen,
die ein IM bei einem solchen Datenreichtum wie den der Weimarer Subkultur
geliefert hätte, grösstenteils ziemlich mager.Wenn-
gleich man immer berücksichtigen
muß, daß für detailliert ermittelnde Aufklärungs-
organe wie das MfS nahezu jede Information,
auch die banal anmutende irgend-
einen Gewinn bedeutet, sei es als
Bestandteil eines angestrebt umfangreichen Gesamtbildes, sei es als Mittel
des Verunsicherung erzeugenden Blöffs mit detailliertem Wissens.
Weniger mager fielen Onnes Mitteilungen
über einige Ereignisse aus, doch deshalb vom Verrat der halben Stadt
und Zerstörung ganzer Biographien zu sprechen ent-
spricht nicht den Realitäten.
So ließ Onne das MfS von einer beabsichtigten Sym-
bolaktion am Alexanderplatz wissen
(einem sogennanten "Die in"....symbolisch in-
szeniertem Massensterben) und gehörte
damit zu denjenigen, die diese öffent-
lichkeitswirksame Aktion verhinderten.
Zuvor hatte er dem MfS schon einen seiner Punkfreunde beim Namen genannt,
der das bekannte, kreiseingefasste A des
Anarchismus an eine Fassade gesprüht
hatte, wobei das MfS von einer Inhaf-
tierung absah. Es spielt
dabei gar keine Rolle, ob solch ein Verrat als sogenannter Vorlauf-IM oder
als richtiger IM begangen wird, unterm Strich steht die Denun-
ziation und ihr Opfer. Auch
hatte er bei der Befragung über Fassadensprühereien vom Herbst
1983, bei der Parolen an Weimars Hauswände geschrieben wurden, gemutmaßt,
wer die Protagonisten dieser Sprühereien sein könnten. Der überwiegende
Teil seiner Mutmaßungen hatte sich dabei als richtig erwiesen. Immerhin
verweist die Existenz der Fehlerquote daraufhin, daß seine Aussage
wahrscheinlich nicht auf Wissen beruhte.
Am Ende
Roth resümiert, daß dies
alles“ einfach totale Scheisse“ sei, sprich, daß es bei dieser angeblichen
IM-Geschichte vorn und hinten nicht stimme. Nichts von dem, was für
die Führung eines Informanten als IM notwendig war findet sich im
„Fall Onne“.
Auch sein Bruder Thomas trägt
noch zum Irrtum bei, wenn er sich erinnert, daß alle Personen, die
zu den Sprühaktionen im Oktober 1983 vorgeladen worden waren von der
Kripo vernommen wurden , nur Onne von einem Stasi-Mitarbeiter, was angeblich
die IM-Natur dieser Befragung beweise. Ich bin damals ebenfalls von
einem MfS-Mitarbeiter verhört worden und war bestimmt nicht der einzige.
Vielleicht war ich einer derer, dem das später bewußt werden
konnte, weil ich in Stasi-U-Haft saß und dort wochenlang von demselben
MfS-Vernehmer bearbeitet wurde, der mich zuvor, als ich noch auf "freiem"
Fuß gewesen bin, wegen der Fas-
sadensprühereien im Oktober
1983 verhört hatte.
Am Ende bleibt ein bizarr anmutender
Kontaktverlauf zwischen einem jungen Punk, der mit einer Mischung aus Naivität
und Selbsteinredung davon ausgehen wollte, die Kontrolle über seine
Beziehung mit dem MfS behalten zu können und der Stasi für Geld
seine „Mitarbeit zur Verhinderung von Straftaten“ zugesagt hat. Vielleicht
dachte und belog er sich wirklich, es ginge –wie es diese Stasi-Bezeichnung
sug-
gerieren soll- vor allem darum,
konkrete strafverfolgbare Taten zu verhindern und damit letztlich auch
die potenziellen Täter vor Sanktion zu schützen und nicht etwa
darum, bereits im Vorfeld massenhaft Daten möglicher Täter anzuhäufen,
die nicht nur jede mögliche “Straftat“ bereits im Keim ersticken und
begangene
Handlungen durch ein abrufabres
umfassendes Datennetz schnell aufklären sollten,
sondern vor allem die Kontrolle
über alle oppositionellen Aktivitäten auch jenseits vermutbarer
Strafhandlungsbereitschaft ausdehnen sollten. Vielleicht realisierte er
auch absichtlich (?) nicht, daß es dem MfS nicht nur um Prävention
gehen
würde, sondern auch darum, bereits begangene Handlungen zu verfolgen
und logischer-
weise dann auch die Personen, die
aufgespürt und dafür verantwort-
lich gemacht werden konnten, ins
Gefängnis zu bringen.
Jemanden durch an die Stasi verratenes
Wissen ins Gefängnis gebracht hat Onne niemanden, auch wenn -wie oben
geschildert-eine seiner mutmassenden Aussagen wesentlich zur Aufklärung
einer nach DDR-(Un-)Recht strafbaren Handlung beitrug.
Als Onne sich nicht länger darüber
etwas vormachen konnte, daß er keinerlei Macht und Kontrolle über
Maß und Inhalt seiner Dienste an das MfS hat, wurde
der Testlauf zu einem zäh lavierenden
Kontakt zwischen Verweigerung der zu erbringenden Leistungen für die
einseitig vom MfS vorgesehene IM-Verpflichtung und andererseits Zugeständnissen
bezüglich seiner Informationsweitergaben ("bischen Futter geben"),
die der Stasi einerseits natürlich willkommen waren, andererseits
aber dauerhaft nicht reichten. Der „Testlauf“ zog sich über fast drei
Jahre hin und schwankte zwischen Unwilligkeit, teilergiebiger Geschwätzigkeit
und echter Information wie dem Verrat des weiter oben erwähnten "Die
in".
Obwohl das MfS eine dauerhafte IM-Einbindung
anstrebte war es zwischenzeitlich offenbar auch mit weniger zufrieden und
nahm gern alles mit, was ihren Er-
kenntnispuzzlen irgendwie hilfreich
sein könnte.
Schließlich löst sich
der nur als protokollarisch angelegter Etikettenschwindel vorhandene, aber
nie real gewordene IM-Kontrakt durch Onnes Ausreise auf. Der Test erweist
sich als mangels ausreichender Motivation nicht bestanden, auch wenn Onne
seine zu Höherem nicht qualifizierbare, aber dennoch durchaus nutz-
bringende Informantentätigkeit
bis zu seiner Ausreise Anfang 1985 fortsetzt, was seine Einlassung mit
diesem Ministerium nicht sympathischer macht. Und das noch weniger, wenn
man erfährt, daß er eine im Frühjahr 1984 erhaltene Ausreisege-
nehmigung ablehnte, weil die BRD-Übersiedlung
seiner Lebenspartnerin nicht gleichzeitig mit der seinen bewilligt wurde
und er in Westberlin nicht etwa lange auf sie warten wollte, was natürlich
sehr gut nachvollziehbar ist.
Aber: Die von ihm gewünschte
Beendigung seiner Tätigkeit für die Stasi hatte demnach für
ihn keine absolute Priorität, trotz der bis dahin von ihm geschilderten
völligen Unmöglichkeit, beim MfS auszusteigen und auch trotz
des unerträglichen Verpflichtungsdrucks, dem ausgesetzt gewesen zu
sein er nach seiner Aufdeckung
erklärte. Der Ausreise nachzukommen
hätte diese Ausstiegs-Möglichkeit geboten, auch wenn der Preis
die zeitlich unabsehbare Trennung von seiner Freundin, also sehr hoch gewesen
wäre. Beim MfS wird man gewußt haben, welche Zerreißprobe
man damit auslöst. Das gilt für eine solche Situation generell
und nicht nur im Fall Onne oder anderer ausreisewilliger Informanten..
Liebe und Lebensplanung haben über
die durch den bewilligten Ausreiseantrag
erhaltene Möglichkeit, eine
von Onne erklärtermaßen als absolut wünschenswert angesehene
Beendigung des Stasi-Kontaktes umgehend endlich realisieren zu können
obsiegt. Offensichtlich war der Verpflichtungsdruck dann doch nicht so
unerträglich, wie Onne ihn schildert oder ihm der Preis für die
Aussicht auf diese für ihn doppelte (DDR, MfS) Befreiung durch Ausreise
einfach zu hoc. Denn sonst hätte er diese Chance der sofortigen Loslösung
vom MfS unverzüglich wahr-
genommen, unverzüglich wahrnehmen
müssen. Stattdessen hat er sich gegen die Ausreise entschieden und
gewartet, bis sie ihm zusammen mit seiner Freundin gewährt wird, was
dann Monate nach der von ihm abgelehnten Ausreise auch geschah. Auch hier
wird der Wille zum Handlungskontrollbehalt gegenüber den Kontrolleuren
wieder deutlich und wenn es ein Zitat dafür gäbe, könnte
es in diesem Fall etwa so lauten: " Ihr bestimmt zwar, wann ich gehen darf,
aber ich und meine Wünsche bestimmen, ob ich dann auch gehen werde."
Darüberhinaus ist es natürlich außergewöhnlich, einem
Ministerium, daß die ganze Entscheidungs-
macht über die Sehnsuchterfüllung
eines Teils seiner Bevölkerung hatte ihre gönnerhafte Macht zu
stehlen, indem man auf die normalerweise sehnsüchtig erwartete Wohltat
ihrer Freiheits-Genehmigung pfiff. Eine Art Unterminierung einer Selbstverständlichkeit.
Bis zu seiner Ausbürgerung hatte
Onne noch so manches Gespräch mit den
Tschekisten. Sein Ende als MfS-Informant
fiel dann mit dem Tag zusammen, als er und seine Freundin gemeinsam aus
der DDR nach Westberlin ausreisen durften.
Das Orwelljahr 1984 war da gerade
erst ein paar Tage vorbei.
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